“… Valle di S. Lucano (das San Lucano-Tal), einer der eigentümlichsten und beeindruckendsten Teile unserer Erde…”
Dino Buzzati. “Cordata di tre” (Dreierseilschaft), Corriere della Sera, 23. Juni 1956.
Das San Lucano-Tal (Valle di San Lucano) erstreckt sich über 10 Kilometer und verläuft durch den Kern eines der größten dolomitischen Klippen. Seine durchschnittliche Tiefe beträgt fast 2 Kilometer und zeichnet sich durch ein eindeutiges Gletscherprofil aus. Die einzigartige Zusammensetzung des Tals ist auf die Kumulation vieler abgelagerter Carbonatgesteine, Felsschutt sowie magmatischer Tiefen- bzw. Eruptivgesteine des Tegnàs-Beckens zurückzuführen.
Das Tal ist von zahlreichen zerklüfteten Gipfeln umgeben, die durch die Nordkante von Monte Agnèr, der höchsten senkrechten Wand der Dolomiten, dominiert sind. Nördlich sind die herausragenden, 1.300 Meter hohen Felsvorsprünge der Palagruppe di San Lucano, mit ihren zerfurchten Klüften zu sehen. Das Tal scheint plötzlich aufzuhören, sobald es das Plateau der Palegruppe di San Martino erreicht hat. In der Tat, läuft das Tal durch das Val d'Angheràz weiter; es handelt sich dabei um ein riesiges Kar, das von vertikalen Gebirgsgraten umkreist ist.
Hier erreichen die eigenartige dolomitische Landschaft den Höhepunkt, wo die horizontalen Linien von Graten und Hochplateaus mit senkrechten Türmen und Schluchten aufeinander treffen.
Die Steilheit der Wände und die Pracht der Formen - die Gipfel, die majestätischen Türme und die prunkvollen Steilhänge; die kontrastfarbigen dolomitischen Gesteine, die neben dunklen Vulkangesteinen von Sonnenstrahlen gefärbt werden; die Erhabenheit des riesigen Monte Agnèr und des zarten Torre Armena, ragen über die kompakte Struktur der Pala-Gruppe heraus.
Nur wenige Orte sind in der Lage so zu bezaubern wie dieses Tal, dessen senkrechte Wände ein friedvolles Mischgefühl aus Verwirrung und Angst erwecken. Dies wird insbesondere dann wahrgenommen, wenn Gewitterwolken durch die Türme gleiten und die „borai“ (steile und schmale felsige Schluchten) hinaufsteigen, um uns die normalerweise verborgenen Einzelheiten zu enthüllen.
Das Tal ist sehr reich an geologischen, landschaftlichen, ökologischen und historischen Besonderheiten. Abgesehen von den üblichen Freizeitaktivitäten, bietet die Steilheit seiner Wände die Möglichkeit für Extremsportarten wie Extremklettern, Canyoning, Base Jumping und Wisbase.
Das Dorf Taibon und das San Lucano Tal gesehen von Farenzena und Umgebung (Agordo). Links: Berg Agnèr; im Hintergrund ist die Hochebene der Pale di San Martino, Pale del Balcon und Cima di Campido; rechts: Terza Pala di San Lucano, Secondo Pala, Monte San Lucano und Prima Pala. Taibon erhebt sich auf der Mündungsebene des Baches Tegnàs und Cordevole; knapp oben links befindet sich auf einer Gletscherterrasse das Dörfchen Soccol (Foto DG).
Das Flussbett von Tegnàs
Tegnàs, ist unser ständiger Begleiter auf einer langen Strecke der Reiseroute. Im Gegensatz zu den meisten Bächen in den Dolomiten ist er wenig von menschlichen Eingriffen betroffen und fliesst ungestört durch den Talboden. Sein natürlicher Verlauf macht ihn zu einem idealen Freiluftlabor bei der Untersuchung der Flussdynamik. Das vor 10 Jahren begonnene und noch laufende Projekt wird vom CNR Mailand in Zusammenarbeit mit dem Institut „U. Follador “ in Agordo durchgeführt.
Die Analyse der Wasserflüsse des Baches Tegnàs hat ein unregelmässiges hydraulisches Verhalten des Valle di San Lucano aufgezeigt. Normalerweise sollte das aus den oberen Becken-Gebieten (Val d'Angheràz und Val Bordina) liegende Wasser in den riesigen alluvialen Boden von Mezzavalle mit einer Stärke von 150-200 Metern und Breite von 300 Metern, absorbiert werden bevor es wieder stromabwärts an die Oberfläche kommt. Die Ursache dieser Unregelmässigkeit ist mit dem Vorliegen einer wasserundurchlässigen verschütteten Wand (z.B. eine Moräne bzw. ein gestürzter Berghang) verbunden. Diese vergrabene Wand hat die Funktion eines Durchflussreglers, der das Becken in zwei Teile teilt. Stromaufwärts kommen höhere Durchflüsse sowie variable und voluminöse Geröllen; unten findet man kleinere und beschränkte Gezeitenströmungen. Dieses hydraulisches Verhalten ist selbstverständlich nicht auf außergewöhnliche Ereignisse wie zum Beispiel die Überschwemmung im Jahr 1966 bzw. den Sturm Vaia vergleichbar; der Letztere hat das Flussbett vollkommen zerstört.
Vereinfachte Nachbildung des geologischen Gebiets Valle di San Lucano, das vom Kern des Dolomitfelsens eingeschnitzt wurde (Zeichnung von DG).